Artgerechtes Hören

Text: Thorsten Rohde, Bilder: Amadeus Acoustics GmbH

Aktive Akustik in Konzertsälen und Veranstaltungsstätten

Wir Menschen sind immersiv wirkende und wahrnehmende Kreaturen. Dies gilt für viele sensorische Ebenen, vor allem aber für die auditive Wahrnehmung. In der Regel ist jeder von uns mit zwei Schallempfängern ausgestattet und kann in unterschiedlichster Form Schall erzeugen. Durch die zugehörige Signalverarbeitung unseres Gehirns können wir unsere Umgebung dadurch aus allen Richtungen wahrnehmen. Und wir können Schallsignale in alle Richtungen abgeben und deren Reflexionen auch wieder empfangen.

Block 2

Mono- oder stereofone Signalwiedergabe kann in dieser Hinsicht eigentlich gar kein ‚artgerechtes Hören‘ für uns Menschen erzeugen. Es ist also die logische Konsequenz, dass die Entwicklung in der Audiowelt diesem Umstand Genüge tut und umhüllende, immersive Systeme für uns Zuhörende bereitzustellen versucht.

Inzwischen existieren daher verschiedene technologische Lösungen, mit denen ein 3-dimensionales Schallfeld erzeugt werden kann.

Jeder Mehrzweckraum kann nur dann kommerziell erfolgreich betrieben werden, wenn er für unterschiedlichste Veranstaltungsformate nutzbar ist. Diese Veranstaltungstypen reichen von gesprochenem Wort über elektroa­kustisch verstärkte Konzerte bis hin zu sinfonischer Musik. Die notwendigen akustischen Eigenschaften des Raumes werden durch die Art der stattfindenden Veranstaltungen bestimmt und sollten sich variabel anpassen können.

Systemprinzip: Lautsprecher und Mikrofone sind gleichmäßig im Raum verteilt
Systemprinzip: Lautsprecher und Mikrofone sind gleichmäßig im Raum verteilt

Darüber hinaus müssen Audiosignale im Raum aus allen Richtungen spatialisiert werden können. Es geht dabei nicht nur um einzelne Quellen, wie z. B. ein Flugobjekt, das über die Köpfe der Zuhörer hinwegdonnert, sondern auch um Klanglandschaften (Soundscapes), die Atmosphären schaffen oder Emotionen erwecken.

Der Raum selbst wird zum umhüllenden Klangerlebnis.

Immersives Raumerlebnis

Regeneratives Konzept
Regeneratives Konzept

Betritt man einen Raum zum ersten Mal und gibt einen Laut von sich – beispielsweise durch Händeklatschen – so erhält man eine Antwort aus diesem Raum. Diese gibt uns Aufschluss über dessen Größe und Beschaffenheit. Mit etwas Übung kann man auch mit geschlossenen Augen die (klanglichen/baulichen) Eigenschaften einer Umgebung erspüren. Jeder Raum hat seine typische akustische Signatur, die durch die Geometrie und die Einrichtung geprägt ist. Wir Menschen nehmen die Reflexionen der Begrenzungsflächen aus allen Richtungen wahr. Unser Gehirn ermittelt daraus z. B. die Lautheit, die Klarheit, die Einhüllung oder die Intimität des Raumes.

Diese akustische Signatur lässt sich nun mit elektroakustischer Unterstützung und digitaler Signalverarbeitung manipulieren. Daraus ergeben sich völlig neue Betätigungsfelder für die Tonschaffenden. Man kann genau den Raum erschaffen oder mischen, den die Darbietung erfordert. Ein Saal, der beispielsweise für die Wiedergabe von Lautsprechersignalen akustisch optimiert wurde, mag ungeeignet für Chor­musik oder Kammermusik sein. Die einfachste Methode dieser Raumanpassung ist eine Veränderung der Nachhallzeit – aber das ist erst der Anfang!

Zunächst sollte man verstehen, was ein natürlich klingendes Schallfeld ausmacht und wie es elektroakustisch verändert werden kann. Beginnen wir mit den Systemen für aktive Akustik und schauen wir uns an, welche Konzepte hierbei verfolgt werden.

Aktive Akustiksysteme

Vektormatrix: Blockschaltbild; roter/grüner Punkt: Mikrofone und die zugeordneten Vektoren zu den Lautsprechern; VM = Vektormatrix; MDR = Mehrkanal-Hallgenerator
Vektormatrix: Blockschaltbild; roter/grüner Punkt: Mikrofone und die zugeordneten Vektoren zu den Lautsprechern; VM = Vektormatrix; MDR = Mehrkanal-Hallgenerator

Aktive Akustiksysteme verändern die Raumakustik mithilfe von elektroakustischen Komponenten wie Lautsprechern, Mikrofonen und Signalprozessoren – anstelle von oder zusätzlich zu Absorbern, Reflektoren und Diffusoren, die in der passiven Akustik verwendet werden.

Zu Beginn der aktiven Akustik wurde zwischen zwei grundlegenden Konzepten unterschieden: In-Line- und Regenerativen (Non-In-Line) Systemen. Der Hauptunterschied zwischen diesen Konzepten bestand darin, wie die Rückkopplung zwischen Mikrofonen und Lautsprechern gehandhabt wurde.

In-Line-Systeme verwenden eine Anzahl von richtenden Mikrofonen, die innerhalb des Hallradius der Schallquellen platziert werden. Aufgrund der richtenden Eigenschaften und der räumlichen Trennung von Mikrofonen und Lautsprechern ist die Schleifenverstärkung möglichst gering und Rückkopplungen zwischen Mikrofonen und Lautsprechern werden reduziert bzw. vermieden. Die akustischen Veränderungen im Zuhörerraum werden entweder durch algorithmische Methoden oder durch Faltung der Mikrofonsignale mit gemessenen oder generierten Impulsantworten erzeugt. Publikum und Darbietende befinden sich dadurch in unterschiedlichen akustischen Umgebungen. Der elektroakustisch erzeugte zweite Raum ist von der vorhandenen Architektur entkoppelt. Ohne ein Quellsignal im Bühnenbereich gibt es entsprechend keine Veränderung der Akustik im Zuhörerbereich!

Im regenerativen Ansatz hingegen werden Signalrückkopplungsschleifen zwischen Mikrofonen und Lautsprechern verwendet, um den Nachhall zu erzeugen. Mikrofone werden außerhalb des Hallradius der Schallquellen platziert, idealerweise im diffusen Schallfeld des Raumes. Zuhörer und Darsteller sind dadurch im selben akustischen Umfeld. Auch die Zuhörer interagieren mit der aktiv generierten Raumakustik.

Heutige Systeme nutzen in der Regel beide Konzepte in einer hybriden Herangehensweise.

Mit regenerativen Konzepten, bei denen passive und aktive Räume über Rückkopplungsschleifen gemischt werden, ist der neu geschaffene, kombinierte Raum mit der passiven Akustik verbunden. Da die Mikrofone der regenerativen Konzepte im diffusen Schallfeld platziert sind, kann aber primär nur die späte Nachhallzeit angepasst werden.

Ergänzend können In-Line-Konzepte mit Mikrofonen, die näher an den Schallquellen platziert sind, auch die frühen Reflexionsmuster beeinflussen, die für viele akustische Phänomene verantwortlich sind und maßgeblich die Qualität von Konzertsälen bestimmen. Viele Systeme falten dabei die Mikrofonsignale mit generierten oder gemessenen Impulsantworten.

Das Misch-Konzept

Die damit erzeugten Reflexionsmuster werden zusätzlich zu den – durch die vorhandene Raumgeometrie erzeugten – passiven Reflexionen wiedergegeben und sind dadurch von der passiven Akustik abgekoppelt. Provokativ veranschaulicht hat dies einen ähnlichen Effekt wie das Öffnen einer Anzahl von Türen zu einigen zusätzlichen Hall-Kammern. Auch wenn die Input-Signale mit komplexen Impulsantworten von einem sehr guten Raum verarbeitet werden, werden diese doch über einzelne Lautsprecher wiedergegeben. Dies entspricht eher dem Hineinhören in einen Saal über eine oder mehrere geöffnete Türen, und man kann man sich gut vorstellen, wie schwierig es ist, hierdurch ein natürlich klingendes Schallfeld im gesamten Raum zu erzeugen.

Darüber hinaus wird ein weiterer, aktiv erzeugter Raum über den vorhandenen passiven Raum gelegt und es besteht die Gefahr einer unnatürlichen Doppelräumlichkeit. Werden entsprechende Systeme also nur sehr schwach eingestellt, wird der passive Raum die doppelte Akustik eher maskieren, was zu einem ‚Knick‘ in der Abklingkurve führt, dem sogenannten Dual Sloping. Wenn genügend Gain-before-feedback vorhanden ist, um eine entsprechende Stärke zu erzielen, führt das im Ergebnis andernfalls zu hörbaren akustischen Artefakten.

Andere Systeme verwenden geometrisch generierte Reflexionsmuster: die sich an der bestehenden Geometrie des Raumes orientieren und dessen Eigenschaften gezielt verändern.

Das geometrische Konzept

Raumanpassungen: Durch Veränderung der örtlichen Vektoren wird die Raumgeometrie manipuliert.
Raumanpassungen: Durch Veränderung der örtlichen Vektoren wird die Raumgeometrie manipuliert.

Das geometrische Konzept im Kontext aktiver Akustiksysteme beschreibt ein hybrides System, das alle aktiven Reflexionen aus einem 3D-Modell der vorhandenen Architektur erzeugt. Schallquellen werden von gleichmäßig verteilten Mikrofonen aufgenommen und ihr Standort wird analysiert. Bild 4 zeigt den prinzipiellen Aufbau eines solchen Systems. Reflexionen werden mithilfe eines Vektormodells in Bezug auf die Position der Schallquelle erzeugt. Gleichmäßig verteilte Lautsprecher sind den Wandflächen zugeordnet, um die jeweils zugeordneten aktiven Reflexionen wiederzugeben.

Die Reflexionen können hinsichtlich ihrer räumlichen und energetischen Verteilung, Dichte und Klangfarbe gesteuert werden. Zusätzlich zum Direktschall von der Quelle werden auch alle erzeugten Reflexionen vom verteilten Mikrofonraster erfasst. Das System beginnt sich zu regenerieren und erzeugt ein diffuses Schallfeld, das ebenfalls von der Geometrie des tatsächlichen Raumes abhängt und aus der Vektormatrix gespeist wird.

Um späte Hallparameter wie RT60, Abklingkurven oder Abklingfarben unabhängig von der Systemstärke anzupassen, kann die Vektormatrix (VM) aus den generierten ersten Reflexionen einen algorithmischen Mehrkanal-Hallgenerator (MDR) speisen, der ebenfalls dem verteilten Lautsprechersystem zugeordnet ist und einen Nachhall erzeugt, der in Art und Farbe dem natürlichen Raumklang nachempfunden ist oder auch bewusste Anpassungen zulässt.

Mithilfe der durch die Vektormatrix erzeugten Reflexionen können viele raumakustische Parameter manipuliert werden.

Man kann die Verstärkung der Reflexionen an den Wänden erhöhen oder verringern, ihre Klangeigenschaften und ihre Dichte und Diffusität anpassen.

Unter Zuhilfenahme von gezielten absorbierenden Maßnahmen passiver Akustik können Wände ‚verschoben‘ werden, indem alle Reflexionsvektoren zu dieser Grenzfläche verlängert werden. Zum Beispiel kann eine Unterbalkondecke auf die tatsächliche Deckenhöhe des Raumes angehoben werden, um den akustischen Raum für das Publikum unter dem Balkon zu öffnen.

Hinter bestimmten Raumbereichen kann man auch ein akustisches Volumen hinzufügen – beispielsweise hinter den letzten Sitzen, um eine Raumantwort für die Musiker zu schaffen, die eher mit einem großen Konzertsaal als mit einem kleinen Konferenzraum vergleichbar ist.

Ein sehr mächtiges Werkzeug ist die sogenannte Energieformung innerhalb der Vektormatrix. Man kann entweder die Energie der Reflexionen nahe zur Quelle fokussieren (das verringert die Klarheit im Raum, verstärkt aber die Einhüllung), oder man formt die Energie mehr in Richtung der entfernten Bereiche, wodurch Lautstärke und Klarheit für entferntere Zuhörer erhöht werden.

Akustische Parameter

Die Werkzeuge haben wir jetzt kennengelernt. Die Kreativität der Tonschaffenden ist nun gefragt, um damit unvergessliche Klangerlebnisse für Darbietende und Publikum entstehen zu lassen.

Im Titelbild werden subjektive akustische Parameter gezeigt, mit denen man einen Klangeindruck in einem Saal beschreiben kann. Man kann sie verwenden, um die Präferenzen der Zuhörenden messbar zu machen.

Diese Faktoren basieren auf Arbeiten von Leo Beranek und Tapio Lokki. Es gibt eine Vielzahl von Literatur über Konzertsaalakustik, die jene subjektiven Parameter beschreibt. Interessanterweise bevorzugen manche Zuhörenden eine klare und intime Akustik, während andere eine starke Umhüllung bei hoher Lautheit bevorzugen.

Um ein zufriedenstellendes Erlebnis für alle Zuhörenden zu erzeugen, müssen also subjektive Parameter wie z. B. Klarheit, Intimität, Einhüllung oder Lautstärke entsprechend eingestellt werden.

Objektive Parameter wie etwa später und früher Nachhall (RT60, EDT), Stärkemaß (G), Klarheitsmaß (C80) oder Seitenschallanteile (LR) werden verwendet, um diese Anpassungen zu messen und zu validieren. Da die Messergebnisse stets über viele Punkte gemittelt werden, wird dabei die Geometrie des Raumes und die Einfallsrichtung der Energieanteile nicht berücksichtigt. Dadurch kann der Höreindruck bei verschiedenen Einstellungen deutlich unterschiedlich, die Messergebnisse können jedoch trotzdem dieselben sein.

Das aktive, geschulte Hören kann also noch nicht so einfach ersetzt werden!

Es ist doch so, dass es in einem großartigen Konzertsaal nicht nur darauf ankommt, wie viele Absorber, Reflektoren oder Diffusoren verwendet werden, um bestimmte akustische Parameter zu erzielen. Es ist vor allem die geschickt gewählte räumliche Anordnung dieser Komponenten, die die Wirkung auf das Publikum ausmacht.

Zum Beispiel gibt es Säle, wo in der akustischen Wahrnehmung der Nachhall vor dem Publikum auf der Bühne entsteht. Die klangliche Vermischung schwappt buchstäblich wie eine Hallblase über das Publikum und erzeugt damit bei den Zuhörerenden einen Mangel an Intimität oder Klarheit. Entsteht der Nachhall erst hinter den Zuhörern und rollt quasi von hinten über das Publikum, kann eine klangliche Umhüllung geschaffen werden, die gleichzeitig mit hoher Durchhörbarkeit und Intimität punktet. (Intimität beschreibt übrigens in der Akustik die gefühlte Nähe zur Schallquelle und nicht die zur Person neben ihnen.)

Bevor eine aktive Akustik in einem Raum eingesetzt wird, müssen also die jeweiligen Bedürfnisse und Präferenzen der Künstler und Zuhörer erkundet werden. Es ist an uns Tonschaffenden, diese Bedürfnisse dann mit einer aktiven Akustik kreativ und fachgerecht umzusetzen.

Fazit

Es stehen uns heute verschiedenartige Systeme und Werkzeuge zur Verfügung, mit denen ein immersives, umhüllendes Hören eingerichtet werden kann. Es ist an der Zeit, dass Tonschaffende beginnen, nicht nur die Wiedergabe von Zuspielungen oder Livesignalen mit umhüllenden Lautsprecheranlagen zu ermöglichen, sondern zusätzlich den gesamten Raum für die jeweilige Veranstaltung mischen. Lassen wir artgerechtes Hören mit immersiver, aktiver Akustik entstehen!

Block 9

Literaturempfehlung:

Evaluation of a geometric approach to active acoustics. Volker Werner, Simon Neeten, Fabio Kaiser, Auditorium Acoustics 2023.

Block 10

Der Autor Thorsten Rohde arbeitet seit ca. 30 Jahren auf dem Gebiet der Beschallung und der Raumakustik. Er ist Geschäftsführer und Partner im Ingenieurbüro Rohde Acoustics und ist einer von drei Gründern der Amadeus Acoustics GmbH. Zudem ist er Lektor für Akustik an der Musikuniversität Wien (MdW) und der Technischen Universität in Graz.