Der Hörweg

Augmentierte Akustische Ökologie für eine Gemeinde im ländlichen Raum

Text: Prof. Sabine Breitsameter, Bilder: Hörweg-Projektteam

Block 1

Das auditive Medienprojekt „Der Hörweg. Unterwegs mit dem Ohr im Dieburger Wald“ verläuft entlang eines beliebten Wanderwegs im Forst von Dieburg, einer Kleinstadt in Südhessen. Das Projekt macht auditive Inhalte einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Es bietet dabei ein ortsspezifisches, ästhetisch hochwertiges Hörerlebnis, das in ein Naturszenario eingebettet ist. Abseits von den üblichen Vertriebswegen wie Radio, Tonträger und Podcast stellt es ein alternatives, zur Zeit seiner Erstellung im Jahr 2019 neuartiges Distributionskonzept für Audioinhalte dar. Insgesamt wurden seit 2019 im Landkreis Darmstadt-Dieburg von uns fünf weitere Hörwege angelegt, von denen drei permanent installiert sind – so auch der Hörweg Dieburg.

Block 2

Der vorliegende Beitrag erhellt einige wichtige konzeptionelle Faktoren, die zu dem Erlebnis führten, das der Hörweg Dieburg seinen Besuchern heute bieten kann. Erläutert werden konzeptionelle Fragestellungen, die bei der Entwicklung und Produktion auftraten, sowie Entscheidungen, die getroffen wurden, um sicherzustellen, dass die technische Umsetzung das beabsichtigte ästhetische Gesamterlebnis unterstützt: Die zentrale strategische Dimension des Hörwegs zielt auf die Förderung einer Kultur des Zuhörens ab und hebt die Notwendigkeit eines auditiven Bewusstseins für den klanglichen Wert der natürlichen Umwelt hervor. Daran anschließend wird die Beziehung des Projekts zu Begriffen und Phänomenen wie „Locative Media“ und „Augmented Reality“ erörtert. Das Projekt „Der Hörweg. Unterwegs mit dem Ohr im Dieburger Forst“ bietet ein Hörerlebnis, das sich im Wesentlichen als technologiegestützter Hörspaziergang beschreiben lässt. Seine zentrale strategische Dimension zielt auf die Förderung einer Kultur des Zuhörens ab und hebt die Notwendigkeit eines auditiven Bewusstseins für den klanglichen Wert der natürlichen Umwelt hervor. Der Hörweg ist nur durch eine Wanderung auf einem definierten Weg – dem Herrnweg durch den Dieburger Forst, einer ehemaligen römischen Militärstraße – erlebbar. Das Hörerlebnis ist nur vor Ort zugänglich, wodurch der Akt des Hörens untrennbar mit der Erfahrung der konkreten Umgebung und gleichzeitig der Aktivität des Wanderns verwoben ist.

Block 3

Die Grundidee des Hörwegs

Entlang des Weges finden die Wandernden zehn Orte – so genannte Hörstationen – vor, die durch eine Tafel mit einem Symbol, das für den zu erwartenden Klang steht, gekennzeichnet sind. Ein QR-Code auf der Tafel macht die Klangmaterialien zugänglich. Die Besucher sind eingeladen, Smartphones und Kopfhörer mitzubringen und zu nutzen, um an diesen Stationen ortsspezifischen Umweltgeräuschen zu lauschen.
Jede Hörstation bietet einen unter normalen Umständen „unhörbaren“ Klang, der zwar die jeweilige klangliche Situation des Orts wiedergibt, darüber hinaus jedoch Klänge präsentiert, die unerwartet, wenn auch ortsspezifisch sind. Ziel ist es, Neugier, Bereitschaft und Fähigkeit der Besucher anzuregen, natürlichen Klangwelten zu lauschen, während man sich physisch durch die Umgebung bewegt. Gleichzeitig stellen die abrufbaren Laute akustische Highlights eines aktiven Habitats dar und erinnern die Hörenden nicht nur an eine im Wandel begriffene Umwelt, sondern auch an den Klimawandel, bedrohte Arten in Flora und Fauna und damit an den gefährdeten auditiven Reichtum.

Block 4

Konzentriertes Hören auf dem Hörweg Dieburg
Konzentriertes Hören auf dem Hörweg Dieburg

Der Anstoß zum Hörweg

„Wie können wir unserer Gemeinde – auf nicht-akademische Weise – vermitteln, dass die Idee der klanglichen Umwelt (Soundscape) wichtig ist für unsere lokale Identität und unser Heimatgefühl? Wie lässt sich ein Bewusstsein dafür schaffen, dass Umweltklänge einen ästhetischen Wert haben und gleichzeitig kritisch auf den ökologischen Zustand unserer natürlichen Lebensräume verweisen?“ Diese Fragen adressierte Franz Zoth, damals Vorstand des traditionsreichen Odenwaldklubs e. V., im Vorfeld unseres internationalen Symposiums „The Global Composition. Konferenz über Klang, Ökologie und Medienkultur“, das wir 2018 an der Hochschule Darmstadt veranstaltet hatten. Zoth verwies damit unmittelbar auf das zentrale Anliegen der von R. Murray Schafer geprägten „Akustischen Ökologie“. Aufgrund von Zoths Initiative wurde es zum gemeinsamen Ziel, nicht nur eine Konferenz für Fachleute zu organisieren, sondern etwas Nachhaltiges zu schaffen, das die lokale Gemeinschaft mit den Kerngedanken der Akustischen Ökologie in Berührung brachte. Gemeinsam beschlossen wir, einen beliebten Wanderweg in der ländlichen Umgebung des Mediencampus Dieburg zu nutzen, um den Mitgliedern der Gemeinde dauerhaft ökologische Klangerlebnisse zu bieten. Ziel davon war, das bewusste Hören als einen fundierten und faszinierenden Ansatz zu identifizieren, der das Verständnis für die Umwelt und ihre ökologischen Probleme befördert.

Block 5

Das „Knistern einer Alteiche“ wurde mit einem Kontaktmikrofon aufgenommen, das unter der Baumrinde platziert wurde. Es fungiert wie ein Vergrößerungsglas für die feinen, leisen Laute, die der Baum von sich gibt.

Gemeinschaftliche Initiative und ein transdisziplinärer Ansatz

Um das Projekt zu ermöglichen, warb der Odenwaldklub e. V. bei einer Reihe lokaler Institutionen – darunter eine regionale Bank, die Frankfurter Flughafengesellschaft und das Hessische Ministerium für Wissenschaft und Kunst – finanzielle Mittel ein. Auf dieser Basis konstituierte sich unter dem Dach des Soundscape & Environmental Media Lab (SEM-Lab) der Hochschule Darmstadt unser transdisziplinäres Hörweg-Team, bestehend aus einem Sound-Designer, der auch als Projektleiter fungiert, zwei Informatikern, zwei Praktikantinnen und der künstlerisch-wissenschaftlichen Leiterin. Unterstützt wurde das Team von 12 internationalen Medienstudierenden. Einige von ihnen kümmerten sich um die wichtige Hardwarearbeit beim Aufstellen der notwendigen Wegweiser, andere waren an der Aufnahme der Umweltgeräusche beteiligt, wieder andere erstellten Landkarten, ermittelten genaue Positionen und erkundeten die Verfügbarkeit verschiedener Mobilfunknetze. Ein Schreiner, HessenForst und eine Druckerei waren ebenfalls beteiligt.

Block 6

Eine Besucherin scannt den QR-Code der Hörstation „Morgendliches Waldkonzert“
Eine Besucherin scannt den QR-Code der Hörstation „Morgendliches Waldkonzert“

Besuchende bringen Tontechnik selbst mit

Bevor wir mit dem Projekt beginnen konnten, musste das regionale Forstamt involviert werden. Gemeinsam definierten wir die einzelnen Hörstationen entlang des Wegs. Die – verständlicherweise strengen – Vorgaben des Amtes lauteten:

  • so wenige Wegweiser wie möglich in den Wald zu stellen (um das natürliche Erscheinungsbild nicht zu verändern),
  • keine technischen Geräte zu installieren (um nicht zu Vandalismus einzuladen) und
  • sicherzustellen, dass die akustischen Materialien des Hörwegs nicht laut in den Wald abgestrahlt werden, um den Lebensraum der Tiere und Pflanzen nicht zu stören.

Gemäß diesen Vorgaben entstand der Plan, die Wandernden ihre eigenen Abspielgeräte und Kopfhörer mitbringen zu lassen. Dies warf unmittelbar die Frage nach der Tonqualität auf. Die Verpflichtung, die Klänge über Kopfhörer zugänglich zu machen, eröffnete gleichzeitig die Möglichkeit, an den Hörstationen binaurale Klänge bereitzustellen. So konnte ein immersives Erlebnis geschaffen werden, welches das Konzept, Soundscape mit der Idee einer Augmented Reality – einer erweiterten Realität – nicht nur unterstützen, sondern auch intensivieren würde. Die visuellen Einschränkungen kamen uns sehr entgegen, da der daraus resultierende Minimalismus den Gesamtfokus auf den Klang unterstreichen würde. Die technischen Anforderungen des Forstamts führten uns zu der budgetfreundlichen – wenn auch konzeptuell anspruchsvollen – Idee, dass jeder Besucher seine eigene Mobil- und Tontechnik mitbringt. Dies sollte zu einem zentralen Aspekt unseres Projektkonzepts werden.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass es zum Zeitpunkt des Projektbeginns bereits eine ganze Reihe anderer Wege und Routen gab, Besucherinnen und Besucher mit Umwelt- oder anderen Geräuschen in Kontakt zu bringen. Viele dieser Möglichkeiten lenken die Aufmerksamkeit auf die Geräusche vor Ort, indem sie Stationen ausweisen, an denen Menschen ihre Ohren dafür öffnen sollen, was vor Ort hörbar ist. Andere Projekte bieten Hardware-Lösungen an (mit dem Risiko, das Equipment durch schlechtes Wetter und Vandalismus funktionsuntüchtig zu machen), bei denen Wanderern Geräusche – mit Kopfhörern oder ohne – zugänglich gemacht werden. Es gibt auch einige dem Dieburger Hörweg ähnliche Vorhaben, welche GPS-Technologie nutzen, deren Funktionalität jedoch von den technischen Möglichkeiten der genauen Ortung und der Netzdichte der verschiedenen Anbieter abhängt. Unser Hörweg-Projekt fand Möglichkeiten, uns davon nicht abhängig zu machen – unserer Meinung nach ein qualitätsentscheidendes Merkmal. Während der Corona-Pandemie wurde das in Dieburg 2019 implementierte Konzept, mit Mobiltelefon und QR-Code zu agieren, immer populärer. Allerdings wurde bei vielen der ähnlichen Vorhaben, vorwiegend außerhalb von Städten, die technische Zuverlässigkeit, die das Dieburger Hörweg-Projekt auszeichnet, nicht erreicht.

Block 7

Ein Schreiner bereitet dem Zement für die Fixierung der Holzstelen der Hörstationen im Waldboden vor.
Ein Schreiner bereitet dem Zement für die Fixierung der Holzstelen der Hörstationen im Waldboden vor.

Paradoxien

Führt es nicht eigentlich zu einer deprivierenden Erfahrung, Wanderer in der Natur zum Hören mit Kopfhörern zu animieren, anstatt sie direkt hören zu lassen? Diese Sorge zwang uns zu einer ersten konzeptionellen Klärung: Die über Medien und Kopfhörer vermittelten Klänge sollen nur temporär gehört werden und nur an dem Ort, zu dem sie in Beziehung stehen, nicht jedoch als Ersatz für diesen Bezugsort dienen. Deshalb werden die Besucherinnen und Besucher am Anfang des Hörwegs darum gebeten, nach ihrem Lauschen an einer Hörstation den Kopfhörer abzunehmen und dann mit geschärftem, aber „unbewaffnetem“ Ohr weiterzuhören – und erst an der nächsten Hörstation, zu der sie wieder einige hundert Meter wandern müssen, den Kopfhörer wieder aufzusetzen. Diese in unseren einführenden und erläuternden Projekttexten vermittelte Klarstellung führte zum nächsten Paradoxon: Warum sollte man einer natürlichen Umgebung, in der man sich bereits befindet, medial vermittelte Naturgeräusche hinzufügen wollen? Würde es nicht ausreichen, die Geräusche vor Ort zu hören?
Wie überall in der Natur verändern sich auch auf dem Hörweg die Geräusche in Qualität und Quantität nicht nur im Laufe des Tages, sondern auch in Abhängigkeit von den Jahreszeiten. Viele ortsspezifische Laute sind daher nicht ständig hörbar. Frühling und Sommer sorgen für eine lebendige Soundscape, während im Herbst und Winter die akustischen Aktivitäten eher reduziert sind, manchmal sogar bis hin zur Stille. In den frühen Morgenstunden oder bei Sonnenuntergang, wenn Vögel, Insekten und Tiere am aktivsten sind, halten sich nur wenige oder gar keine Wanderer im Wald auf. Zudem gibt es Soundscapes, die auf besondere Weise aufgenommen und produziert werden müssen, um sie dem menschlichen Gehör zugänglich zu machen (zum Beispiel die Geräusche in einem Ameisenhaufen oder von fliegenden Fledermäusen). Viele ortsspezifische Geräusche sind zwar vorhanden, werden aber nur selten oder fast nie von Menschen wahrgenommen. Wir sahen es daher als Aufgabe des Hörwegs an, seine Besucherinnen und Besucher mit diesen vorhandenen, aber wenig wahrgenommenen Geräuschen bekannt zu machen: mit selten gehörten Klängen, die den auditiven Reichtum der Orte jenseits eines oberflächlichen Alltagshörens greifbar machen.
Ein weiteres wichtiges Paradoxon, das es zu lösen galt, war die Tatsache, dass naturverbundene Wandersleute nicht selten ältere Menschen sind, die zuweilen eine skeptische Haltung gegenüber digitalen Medien haben und im Umgang mit diesen Werkzeugen oftmals wenig geübt sind. Der Hörweg wurde daher nicht nur als Projekt zur Förderung des Umwelthörens konzipiert, sondern auch als ein Beitrag zur digitalen Transformation der Gesellschaft im Sinne einer medienästhetischen Bildung. Dies stellte uns vor die Herausforderung, eine Apparatur zu entwickeln, deren Handhabung die Projektziele nicht durch technische Schwierigkeiten überlagert.

Block 8

Neudefinition des Hörspaziergangs

Ausgehend von Projektzielen sollte die Methode des Hörspaziergangs eine wichtige Rolle spielen. Sie knüpft an den „Soundwalk“ der Akustischen Ökologie an: Während die Teilnehmenden die Landschaft durchmessen, konzentrieren sie sich gleichzeitig auf die Soundscape als Gesamtklang sowie auf deren einzelne Schallereignisse, die hervortreten und auch wieder verschwinden können. Durch diese paradoxe Art des Zuhörens, die dem Hören polyphoner Musik sehr ähnlich ist, vermögen die Hörenden eine gegebene Hörsituation nicht nur intensiv, sondern sie auch in ihren Einzelbestandteilen wahrzunehmen und sie zu analysieren. Zudem spiegelt das gleichzeitige Bewegen und Hören unser aktives „In-der-Welt-Sein“ wider.
Die Soundwalk-Tradition der Akustischen Ökologie wurde von zwei Kanadierinnen begründet: der Komponistin Hildegard Westerkamp [^1] und der Künstlerin und Wissenschaftlerin Andra McCartney[^2]. Beide Soundwalk-Praktiken beruhen auf einem Menschen, der die Leitung des Soundwalks übernimmt. Er oder sie führt die Teilnehmenden durch Hörsituationen, in denen sie aufgefordert sind, ihre Ohren ohne technische Unterstützung auf die gegebenen Klanglandschaften und -ereignisse zu richten.
Neuere Konzepte, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, verfolgen oft das gleiche Ziel des intensiveren Hörens und bedienen sich verschiedenster Medientechnologien. Die wegweisende US-amerikanische Künstlerin Teri Rueb kreiert seit 1997 GPS-basierte Soundwalks, die den Begriff „locative audiomedia“ veranschaulichen[^4]. Die britische Künstlergruppe Blast Theory schuf seit Ende der 1990er Jahre auditive Stadtspaziergänge in Form von „alternate reality games“, die auf Handheld-Computern oder Smartphones basieren[^5]. Die Electrical Walks[^6] der deutschen Künstlerin Christina Kubisch verwenden seit 2003 spezielle Kopfhörer, um abstrakte, rätselhafte alltägliche Klangwelten zu präsentieren, die auf den Magnetfeldern der zahlreichen elektrischen Geräte und Apparate im öffentlichen Raum basieren. Die australische Künstlerin Leah Barclay realisierte sogenannte „Augmented Reality Sound Walks“, die auf GPS-Navigation und Klänge aus dem Regenwald basieren. Diese wurden virtuell in andere Städte verpflanzt, so auch Klänge vom Ufer des Brisbane River auf der Grundlage des Standorts und der Bewegung des Kopfhörer tragenden Teilnehmenden (z. B. Rainforest Listening, Times Square, New York City (New York 2015) und River Listening (Brisbane 2017))[^7]. Beide Projekte funktionieren mit einer Smartphone-App, die aus dem App-Store heruntergeladen werden muss und über In-App-Käufe auch Zugang zu vergangenen Soundwalks bietet.
Obwohl der Hörweg Dieburg ebenfalls ein ortsbezogenes Technologiekonzept verwendet, kopiert er die oben genannten Vorgänger nicht, da sein spezifisches Gesamterlebnis durch seinen Kontext, seine Intention und seine Community-Orientierung definiert ist. Er bietet ein sehr gutes Beispiel dafür, dass technische Ähnlichkeiten nicht notwendigerweise die Vergleichbarkeit der ästhetischen Erfahrung und der Schaffung von Sinn und Bedeutung bestimmen.
Trotz einiger struktureller und funktioneller Ähnlichkeiten ist der Hörweg Dieburg weder mit einem konventionellen Soundwalk noch mit den erwähnten Vorgängern kongruent. Sein Ziel ist zunächst ein ökologisches, pädagogisches. Seine Motivation ist das soziokulturelle Erbe: die Wanderlust, ein nicht nur in der deutschen/österreichischen/schweizerischen Gesellschaft tief verwurzeltes Konzept, das durch die Aufmerksamkeit für die Details der Umwelt, den tiefen Respekt vor der Natur sowie die Entdeckungslust in Verbindung mit körperlicher Anstrengung oder Verausgabung gekennzeichnet ist. Man könnte hier fast schon von einer „spirituellen Haltung“ sprechen, gerichtet auf eine Wahrnehmung der Beseeltheit, Schönheit und Aura der Welt. Das Erfahrungskonzept des Hörwegs Dieburg ist eingebettet in dieses trans-subjektiv tradierte, mentale Feld, das nicht nur das gemeinschaftliche Teilen seiner ästhetischen Wahrnehmungen beinhaltet, sondern auch davon ausgeht, dass diese Erfahrungen ein hohes, gemeinschaftsstiftendes Potenzial haben, das den sozialen Zusammenhalt unterstützt.

Block 9

Die Stationen befinden sich an markanten Stellen, wie hier die Station „Still! Hörst Du es auch?“, an der bei genauem Lauschen die Starts der Flugzeuge am Frankfurter Flughafen zu hören und bei klarer Sicht zu sehen sind
Die Stationen befinden sich an markanten Stellen, wie hier die Station „Still! Hörst Du es auch?“, an der bei genauem Lauschen die Starts der Flugzeuge am Frankfurter Flughafen zu hören und bei klarer Sicht zu sehen sind

Der ortsbezogene Ansatz

Die Intention des Hörwegs Dieburg ist es, an bestimmten Orten entlang eines definierten und beliebten Wanderweges überraschende Hörerlebnisse von spezifischen Waldklängen zu ermöglichen. Diese wurden an charakteristischen Stellen im Wald installiert, zum Beispiel im Territorium der Wildschweine, im Revier der Spechte, in der Hirschkäfer-Wiege und im Lebensraum der Fledermäuse. Wir wählten Orte für elf Hörstationen aus, an denen wir nicht nur ortsspezifische Klänge für das Publikum bereitstellen, sondern auch eine umfassende Umwelterfahrung gestalten, bei der die Soundscape in signifikanter Weise mit der visuellen, taktilen und allgemeinen auditiven Situation vor Ort verschmilzt.
Um eine solche Ortsspezifik zu ermöglichen, benötigt es digitale Medientechnologien, die mittels Smartphone oder Tablet eingesetzt werden, wie etwa GPS, das Geographic Information System (GIS) oder andere Tracking-Tools.
Im Jahr 2003 wurde der Begriff „locative media“ (übersetzt: ortbezogene Medien) von Karlis Kalnins[^8] geprägt, um die wachsende Zahl medienbasierter ortsspezifischer Werke zu bezeichnen. Dieser Begriff wurde jedoch häufig missverstanden, da viele seiner Anhänger ihn in erster Linie mit den spezifischen Grundlagentechnologien in Verbindung brachten, die als sein Hauptmerkmal gelten. Früher wurde er mit GPS-basierten Projekten gleichgesetzt (und auf diese beschränkt). Die Technologie hat sich jedoch schnell weiterentwickelt, ebenso wie ihr Umfeld. Was in den 2000er Jahren unter dem Begriff „Pervasive Computing“ und/oder „Ubiquitous Computing“ und seiner fulminanten Aura als geradezu ehrfurchtgebietend galt, ist heute ein wohlvertrautes und unspektakuläres Konzept und Werkzeug.
Für den Hörweg Dieburg ist die sorgfältige Auswahl und Gestaltung geeigneter Tracking- und Ortungswerkzeuge entscheidend. Generell müssen diese geschickt ausgewählt und konzipiert werden, da sie im ästhetischen Prozess unweigerlich zu Signifikanten werden und somit das Gesamterlebnis maßgeblich beeinflussen. Sobald der Umgang mit der Technologie schwierig (oder zumindest problematisch) wird, verlagert sich das Wahrnehmungserlebnis von der Anforderung, aufmerksam zuzuhören auf die Herausforderung, die Geräte funktionsfähig zu machen. Für das Hörweg-Erlebnis haben wir uns entschieden, die Benutzerfreundlichkeit in den Dienst der Zuhör-Erfahrung zu stellen, damit das Projekt seine Absichten erfüllen kann.
Alles in allem haben wir festgelegt, dass die Werkzeuge, mit der die Ortsbezogenheit des Hörweg Dieburg realisiert werden,

  • technologisch in der Lage sein müssen, die Klänge zuverlässig, in hoher Qualität und ohne Abspielfehler an die jeweiligen Orte zu bringen,
  • das ganze Jahr über im Freien stehen können, ohne zu verschleißen,
  • einfach zu handhaben sind und den Besucherinnen und Besuchern unterstützende Funktionen anbieten,
  • sich unaufdringlich ins Gesamtbild des Walds einfügen.

Anstatt den Begriff „locative media“ oder ortsbezogene Medien mit spezifischen Medientechnologien zu verknüpfen, schlagen wir vor, ihn ganzheitlich als ein Prinzip der Erlebnisgestaltung zu verstehen: Ortsspezifische Eindrücke schaffen kognitive, ästhetische und soziale Erfahrungen durch geeignete Technologien, die die beabsichtigten Eindrücke fasslich machen.
Wie Jillian Hamilton feststellte, „ist für einige [Menschen] – zum Beispiel regionale Künstler, Bürgerjournalisten und Umweltorganisationen – ein Gefühl für die Spezifik des Orts ein besonders wichtiger Aspekt der Darstellung und ein wichtiger Ausgangspunkt, um mit anderen Menschen durch Gespräche in Austausch zu treten“.[^9]
Die Erfahrung des Ortes, wie sie durch den ortsbezogenen Ansatz des Hörwegs vermittelt wird, hat das Potenzial, das allgemeine Verständnis für einen Ort, seine Identität und seine Bedeutung innerhalb des Diskurses und der Praktiken der jeweiligen Gemeinschaft zu stärken. Ein solches Verständnis trägt zur Intensivierung der sozialen und kommunikativen Erfahrung und eines Heimatgefühls bei. Dies veranlasste uns dazu, den Begriff „locative media“ klarer zu formulieren, ihn nicht nur auf Aspekte der bloßen Technologie und des ausschließlichen Datenbezugs zu beschränken, sondern sich auf seine poetischen, ästhetischen, kognitiven und sozialen Erfahrungsangebote zu konzentrieren, die wiederum durch die projektspezifischen technologischen Konzepte wesentlich gestützt werden. Durch die Neuformulierung des Begriffs „locative media“ lässt sich sogar behaupten, dass das jeweils verwendete Medium und seine Technologien – je nachdem, wie stark sie in Erscheinung treten – ein wichtiger Teil der Botschaft sind.

Block 10

Technische Umsetzung des ortsbezogenen Konzepts

Da die Absicht bestand, bestimmte Klanglandschaften an speziell ausgewählten Orten zu platzieren, war unsere erste Idee, das technische Konzept auf GPS-Tracking zu stützen: Das Erreichen einer bestimmten GPS-Koordinate würde einen bestimmten Sound auslösen. Die Arbeit mit OpenStreetMap und der Versuch, die GPS-Koordinaten zu definieren, erwies sich jedoch als umständlich und unzuverlässig. Es war schwierig, die GPS-Werte genau zu lokalisieren, da sie sich während unserer Recherche nicht nur von Mobilgerät zu Mobilgerät, sondern auch täglich, wenn nicht sogar stündlich unterschieden.
Hinzu kam, dass die Stärke der verschiedenen Mobilfunknetze im Wald sehr uneinheitlich und unzuverlässig war. Es gab tote Zonen ohne Mobilfunkempfang, die von Netz zu Netz unterschiedlich waren. Es wurde schnell klar, dass weder die GPS-Ortung noch das Auslösen und Streamen der ortspezifischen Soundscape richtig funktionieren würden.
Dieses Problem haben die Informatiker im Team gelöst. Am Waldeingang, in der Nähe des Startpunkts des Dieburger Hörwegs, fanden sie eine konstant gute Mobilfunkverbindung für alle Anbieter, auf die sie ihr technisches Konzept stützen konnten.
Das Team errichtete eine Tafel mit einer kurzen Projektvorstellung des Hörwegs, mit grundlegenden Hinweisen zum Betrieb und zur Technik sowie einem Internet-Link, über den die Hörweg-App – auch per QR-Code – installiert werden kann. Über den Link kann der komplette Datensatz der Geräusche vor dem Betreten des Waldes heruntergeladen werden. Um das Projekt ortsgebunden zu halten, war es jedoch wichtig sicherzustellen, dass die Geräusche nur an den jeweiligen Hörstationen aktiviert werden können.
Dazu wurde an jeder Hörstation ein sorgfältig gestaltetes Schild mit dem Namen der Station, einem Symbol und einem QR-Code angebracht. Durch das Scannen des Codes mit dem Smartphone wird der spezifische Sound für diese Station aktiv und somit für die Besucher hörbar. Als Backup für den Fall, dass der Scanvorgang gestört ist, wird ein Zahlencode bereitgestellt, den die Besucher in die App eingeben können, um den dem Ort zugeordneten Ton abzurufen. Alle technologiebezogenen Aktivitäten, die den Besuchern abverlangt werden, wurden dergestalt konzipiert, getestet und umgestaltet, dass die Handhabung der Geräte so reibungslos und funktionell wie möglich ist. Es sollten keine Fehlfunktionen entstehen können, welche die Besucher vom Hören der Soundscapes ablenken und die Wertschätzung des Projekts mindern würden.

Block 11

Bevor sie ihre Exkursion beginnen, können die Besucher die Website besuchen, von der sie die Hörweg-App (nicht jedoch die Klänge) herunterladen können. Hier werden der Hörweg Dieburg und seine technische Handhabung in verständlicher Sprache erklärt. Antworten auf sog. FAQs sind auch bei der Handhabung des Browsers vor Ort per Mobiltelefon abrufbar, falls man beim Wandern Unterstützung benötigt.
https://www.owkdieburg.de/hoerweg/

Block 12

Ästhetische Kriterien für das Aufnehmen und Gestalten der Soundscapes

Die zentralen pädagogischen und ästhetischen Ziele des Hörwegs Dieburg sind:

  • die Ohren der Besucherinnen und Besucher für die Umgebungsgeräusche des Wanderweges zu öffnen,
  • die allgemeine akustische Neugier, die Fähigkeit und Bereitschaft zum Zuhören zu fördern,
  • ein Verständnis dafür zu vermitteln, dass die Geräusche der Umwelt in direktem Zusammenhang mit ihrer ökologischen Beschaffenheit stehen.

Wie sind die ortsspezifischen Umweltgeräusche am besten zu konzipieren und zu gestalten, um diese Ziele zu erreichen? In Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Akustischen Ökologie soll der Hörweg Laute zur Verfügung stellen, die normalerweise ignoriert werden oder unerwartet erscheinen, um damit den halb- oder unbewussten Hörgewohnheiten der Besucher entgegenzuwirken und diese durch eine Haltung auditiver Achtsamkeit zu ersetzen.
Wir haben drei verschiedene Ansätze zur Identifizierung von Lauten verwendet, die diesen Ansatz unterstützen. Sie können wie folgt kategorisiert werden:
a. Pseudo-naturalistische und unerwartete Soundscapes
Dazu gehören Naturlaute, die von den Geräuschen einer nahegelegenen Straße, einer Industrieanlage oder vom Fluglärm des nahegelegenen Frankfurter Flughafens durchsetzt und überlagert werden. Da sie auch „unerwünschte“ Geräusche enthält, verliert die ursprüngliche natürlich geprägte Soundscape ihre Vertrautheit. Beim Hören der Aufnahmen kann der Mechanismus des instinktiven Filterns und Ignorierens, der normalerweise beim Hören im Kontext vor Ort stattfindet, nicht mehr aufrechterhalten werden. Sie werden dadurch deutlich als mit Zivilisationsgeräuschen vermengte „natürliche“ Laute wahrnehmbar.
Aus dieser Überlegung heraus sind drei der elf Hörstationen auf dem Dieburger Hörweg entstanden. Die Station „Morgendliches Waldkonzert“ beispielsweise erfüllt nicht das in ihr anklingende romantische Versprechen, da sie nicht nur das Erwachen der Fauna einfängt, sondern auch das frühmorgendliche Hochfahren der umliegenden Industrieanlagen und den zunehmenden Verkehr auf der nahen Schnellstraße.
Diese Geräusche vermögen Zuhörende insofern zu fesseln, als sie auf Laute verweisen, die einen scheinbar natürlichen Eindruck durchbrechen und ihnen damit die banale – wenn nicht gar verzerrte – Realität ihrer vertrauten Geräuschkulisse bewusst machen.
b. Abstrahierte und rätselhafte Soundscape
Einige Klänge, die wir für den Hörweg Dieburg verwenden, wurden mit einem Kontaktmikrofon aufgenommen, das als Vergrößerungsglas fungiert. Unter der Rinde einer Eiche oder inmitten eines Ameisenhaufens platziert, zeichnete es die Aktivitäten im Inneren auf und erzeugte so abstrakte, rätselhafte und ästhetisch fesselnde Klanglandschaften, die keinen Hinweis auf ihren Ursprung geben und so die Frage aufwerfen: Was genau hören wir da? Auf diese Weise können die Laute Zuhörende in ihren Bann ziehen.
c. Opulente und fesselnde Soundscapes
Der Hörweg Dieburg möchte seinem Publikum auch Klänge bieten, die es dazu einladen, sich der Schönheit und dem Genuss des Zuhörens hinzugeben. Beispiel dafür ist u. a. eine Aufnahme von Insekten während der Bestäubungsphase in einem dichten Gehölz der Elsbeere. Das lebhafte und leicht abstrakte Summen sowie die Tonhöhen und Bewegungen der Insekten sind ein „kulinarisches“ Erlebnis für die Ohren. Ähnlich verhält es sich mit der Aufnahme eines Teiches, an dem ein frühmorgendliches Froschkonzert aufgezeichnet wurde – eine hochpolyphone und prächtige Klanglandschaft.
In diesem Zusammenhang muss erwähnt werden, dass die Klänge der Kategorien a und c binaural wiedergegeben werden, und dass kein Klang verändert oder verschönert wurde.
Die Aufnahmen mussten in ein mp3-Datenformat konvertiert werden und waren somit einer Datenreduktion unterworfen. Nicht nur nach der Konvertierung, sondern auch, nachdem die Aufnahmen über den Browser zugänglich gemacht wurden, mussten wir die Ergebnisse ausführlich kritisch überprüfen. Es gab keine Möglichkeit, die Browser der jeweiligen Smartphones und deren Einfluss auf das endgültige Hörerlebnis zu kontrollieren. In Fällen, in denen wir feststellten, dass beispielsweise Frequenzbänder verloren gingen oder besonders hervortraten, versuchten wir, dies durch vorsichtige EQ-Prozesse zu kompensieren. Die Länge der Sounds haben wir zwischen 2:00 und 4:30 Minuten festgelegt, abhängig davon, inwieweit das Klangmaterial dramaturgisch „trägt“. Wir waren uns bewusst, dass die Hörstationen während der Wanderung von den Besuchern als Unterbrechungen empfunden werden könnten, weshalb wir uns bemüht haben, die Wanderung durch das Hörangebot der Stationen nicht unverhältnismäßig in die Länge zu ziehen.

Block 13

Die Steigerung der Erfahrung: Der Begriff „Augmented Reality“ in Bezug auf das Projekt

Die Hörstationen überlagern die klangliche Realität vor Ort, indem sie digitale Klanginformationen vermitteln, die nicht aktueller Teil der vorhandenen Soundscape sind. Über das eigene Smartphone fügen die Hörstationen der Realität zusätzliche auditive Phänomene hinzu. Dies verweist unweigerlich auf den Begriff der Augmented Reality (AR; englisch: gesteigerte Erfahrung). Nach der Formulierung von Caudell und Mizell [^10] bezieht sich der Begriff Augmented Reality auf überlagerte, elektronisch vermittelte Wahrnehmungsinformationen, die die gegebene Umgebung entweder ergänzen (konstruktiv) oder ausblenden (destruktiv). Dabei ist es unerheblich, ob etwa ein Klang über Kopfhörer, Lautsprecher oder durch andere Mechanismen in den Raum eingespeist wird.
Der Begriff Augmented Reality selbst wurde hauptsächlich (wenn nicht sogar ausschließlich) in Bezug auf visuelle Phänomene geprägt und entwickelt, so dass das allgemeine Verständnis von AR stark auf den Gesichtssinn bezogen ist. Hätte der Hörweg ein Bild geliefert – zum Beispiel eines, das über ein digitales Gerät auf visuelle Elemente entlang des Weges abgerufen und projiziert hätte werden können –, würde man ihn wahrscheinlich unbestritten als AR-Projekt klassifizieren. Der Zugriff auf und die Projektion von auditiven Daten in eine bestehende Soundscape wurde jedoch selten unter dem Gesichtspunkt der AR betrachtet. Eine Ausnahme bildet hier das oben genannte Leah-Barclays-Projekt der Augmented Reality Soundwalks.
Ob und wie der Begriff der AR mit den immateriellen und prozeduralen Eigenschaften des Klangs vereinbar ist, müsste in einem eigenen Beitrag diskutiert werden. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass das Einfügen von Klängen in eine gegebene Klanglandschaft durch einen Überlagerungseffekt, ohne dass die physische Klangquelle vorhanden ist, ein Phänomen ist, das nicht nur unter digitalen und medientechnischen Bedingungen existiert. Es handelt sich um Charakteristikum des Auditiven: Klang hat die grundsätzliche Eigenschaft, das wahrnehmbar zu machen, was vor Ort, in einem Raum oder einer Situation nicht sichtbar oder tastbar ist.
In Anbetracht der Selbstverständlichkeit – dass Klang schon immer in der Lage war, eine augmentierte Realität zu erzeugen – fanden wir es weniger erhellend, den Hörweg Dieburg mit einer „erweiterten“ Erfahrung in Verbindung zu bringen, sondern fanden die Begriffe „erweiterte Realität“ (englisch: Expanded Reality) und „gemischte Realität“ (englisch: Mixed Reality, letztlich unser Begriffsfavorit) angemessener.
Diese terminologische Positionierung schafft zudem eine Distanz gegenüber einem visuell geprägten AR-Begriff und ebenso zu damit verbundenen utilitaristischen Anwendungen für ursprünglich militärische, industrielle oder kommerzielle Zwecke, namentlich auch im Bereich der Games. Der Begriff „Mixed Reality“ hebt demgegenüber das Zusammentreffen von materiellen und medial-immateriellen Phänomenen im Szenario hervor und lässt sich damit wesentlich plausibler auf das Auditive anwenden.

Block 14

Fazit

Ziel dieses Beitrags war es zu zeigen, inwieweit die Erfahrungsdimension des Hörweg-Projekts durch die technologische Umsetzung und die ästhetischen Konzepte gestaltet werden konnte. Der vorliegende Aufsatz betrachtete das Verhältnis des Hörwegs Dieburg zu Begriffen wie Locative Media und Augmented Reality, erläuterte dessen projektbezogene technischen Konzepte der Tonaufzeichnung und -wiedergabe sowie die Kriterien der künstlerisch-konzeptuellen Erstellung. Deren Bedeutung für die auditiv-sinnliche Gesamterfahrung der Besucherinnen und Besucher sollte untersucht werden. Die technologische Umsetzung, die ästhetischen Konzepte und die terminologische Identifizierung müssen nicht um ihrer selbst willen analysiert werden, sondern um ihren unmittelbaren Beitrag zur Erfahrungsdimension des Projekts zu verdeutlichen.
Diese verweist unmittelbar auf die strategische Dimension des Hörwegs: auf anders- und neuartige Möglichkeiten der Distribution von auditiven Inhalten sowie auf die Verbreitung der Ideen der Akustischen Ökologie: Das Erlebnis Hörweg popularisiert letzteres, ohne auf den hohen ästhetischen, kognitiven und ökologischen Anspruch, der mit der Akustischen Ökologie einhergeht, zu verzichten. Durch die Verbreitung von hochwertigen Originalton-Kompositionen, die sich grundlegend vom alltäglichen musikalischen Mainstream unterscheiden, verleihen technische Präsentation sowie umweltlicher Kontext den abrufbaren Hörweg-Geräuschen eine besondere Bedeutung, welche die Ohren von Menschen, die künstlerisch nicht vorgebildet sind, öffnen können.
Durch sein ungewöhnliches Distributionskonzept im Verein mit seinen klanglichen Inhalten erscheint der Hörweg Dieburg in der Lage, einen Beitrag zu einer breiteren Akzeptanz für zeitgenössische Klänge und Musik zu leisten. Hilfreich ist dabei sicherlich die Tatsache, dass seine Präsentationen fernab von Konzert- oder Rundfunkübertragungen und außerhalb etablierter Kulturinstitutionen siedeln, so dass sich bei der Rezeption nicht ein „exklusives Kultur-Feeling“ einstellt, sondern eher ein inklusives Gemeinschaftserlebnis im Zeichen der Natur.

Block 15

Ausblick

Geplant ist die Einrichtung von zwei weiteren Hörwegen im Rhein-Main-Gebiet. Wir beabsichtigen, das Potenzial der Hörwege in Hinblick auf die Hörpraktiken ihrer Besucherinnen und Besucher sowie in Hinblick auf die Förderung einer zeitgenössischen Hörkultur weiter zu erforschen, entsprechend den Zielen und Methoden der Publikumsentwicklung im Sinne eines „Audience Development“. Uns interessiert dabei, inwieweit durch derartige Projekte die Bereitschaft und Fähigkeit zum Zuhören gefördert und das Bewusstsein für den Wert einer differenzierten akustischen Umwelt in Alltag und Natur vertieft werden kann.
Der Hörweg Dieburg wird übrigens als Installation auf der Tonmeistertagung gezeigt. Bringen Sie Smartphone und Kopfhörer mit!

Block 16

Die Autorin

Sabine Breitsameter, Professorin für Sound und Medienkultur, ist Forschungsdirektorin für Künstlerische Forschung und Medienästhetische Praxis am Institut für Kommunikation und Medien der Hochschule Darmstadt. Für die tmt32 hat sie einen Thementag „Soundscapes und akustische Ökologie“ organisiert, in dem auch der Hörweg Dieburg vorgestellt wird.

Block 18

Hinweis:
Der vorliegende Aufsatz ist eine aktualisierte und überarbeitete Fassung des englischsprachigen Aufsatzes „Der Hörweg/The Listening Path. Augmenting Acoustic Ecology for a Rural Community“, der peer-reviewed in den Proceedings der International Computermusic Conference ICMC 2021 erschien.

Danksagungen
Wir danken unseren Hörweg-Teammitgliedern Marisa Hermann (Designerin), Dr. Oliver Hermann (Informatiker), Xenia Kitaeva (Projektassistentin), Dr. Robert Löw (Informatiker), Aleksandar Vejnovic (Projektleiter und Sounddesigner) und Esther Wilka (Praktikantin). Während der Projektlaufzeit wurden wir freundlicherweise von Franz Zoth und zahlreichen engagierten Mitgliedern des Odenwaldklub e. V., insbesondere von Walter Gödecke, unterstützt. Wir danken dem Odenwaldklub e. V., der Sparkasse Dieburg, der FRAport aG, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und HessenForst/Forstamt Dieburg, die das Projekt Hörweg Dieburg ermöglicht haben, für ihre Unterstützung, Offenheit und ihr Vertrauen.

Block 19

Quellen:
In der Langversion des Artikels, die online zu lesen ist, sind mehr Quellenangaben eingearbeitet als in der gekürzten Printversion. Die Nummerierung wurde jedoch der Übersichtlichkeit halber beibehalten.

⠀[^2]: A. McCartney, D. Paquette, „Soundwalking and the Bodily Exploration of Places“, Canadian Journal of Communication Vol. 37 (2012), pp. 135-145.

⠀[^3]: S. Breitsameter, „Hören gehen. Eine kleine Geschichte der Hörspaziergänge“, in: B. Kracke/M. Ries (eds.), Expanded Narration. Das Neue Erzählen, transcript-Verlag, Bielefeld 2013, pp. 171-186. // Wird im Text nicht referenziert

⠀[^4]: J. Hight, „Interview with Teri Rueb“, Leonardo Electronic Almanac New Media Exhibition, February 2011, on: https://www.leoalmanac.org/wp-content/uploads/2011/03/Interview_Rueb.pdf (28.02.2021).

⠀[^5]: R. Buschauer, K. S. Willis, „Locative Media. Medialität und Räumlichkeit“, transcript-Verlag, Bielefeld 2013, p. 12.

⠀[^6]: M. Milani, „Walking the City with Christina Kubisch“ (Interview), Digimag, Issue 45, June 2009, on: http://digicult.it/digimag/issue-045/walking-in-the-city-with-christina-kubisch/ (28.02.2021).

⠀[^7]: L. Barclay, „Rainforest Listening, Times Square“, New York City, c.f. on: https://leahbarclay.com/rainforest-listening-times-square-new-york-city/ (01.09.2020) and L. Barclay, River Listening, c.f. https://explore.echoes.xyz/collections/1QGXIW0UpUNqW2Di (01.09.2023).

⠀[^8]: cf. Galloway & Ward, 2006.

⠀[^9]: e.g. K. Diamantaki, „Towards Investigating the Social Dimensions of Using Locative Media“, http://www2.media.uoa.gr/~charitos/papers/conf/DIA2007.pdf (01.09.2023).

⠀[^10]: J. G. Hamilton, „Ourplace: The convergence of locative media and online participatory culture“, The Proceedings of OZCHI 2009, 23-27 November 2009, The University of Melbourne, Melbourne, Victoria, pp. 393-396.

[11] Cf. Th. Caudell, D. Mizell, „Augmented reality: An application of heads-up display technology to manual manufacturing processes“, System Sciences, 1992. Proceedings of the Twenty-fifth Hawaii International Conference on Presence: Teleoperators and Virtual Environments. 2. IEEE, pp. 659-669. // Wird im Text nicht referenziert.